Für den exakten Jahrestag zwar ein paar Sonnenaufgänge zu spät, aber dennoch eine lohnende Erinnerung…
Beinahe auf den Tag genau vor 30 Jahren standen sich letztmalig die ersten Mannschaften vom glorreichen RWE und dem FC Meineid 04 gegenüber. Unfassbar wie lang das her ist. Und es sollte bedeutsam werden, ein unvergessenes Spiel. Es war ein Spiel der zweiten Runde des DFB-Pokal und der RWE empfing als Oberligist, damals drittklassiges Niveau, den Bundesligisten aus der schäbigen Nachbarstadt. Keine zwei Jahre zuvor standen sich beide Vereine noch in der zweiten Liga gegenüber, aus der sich die Roten mit einem denkwürdigen Lizenzentzug herauszauberten, während der verhasste Kontrahent im richtigen Moment, als das Fußballgeschäft richtig Fahrt aufnahm, die Schritte für eine leidlich erfolgreiche Zukunft einleitete. Es war die Phase als die Wege zweier Rivalen auseinandergingen, die sich über Jahrzehnte oft auf Augenhöhe begegnet waren. Die Vorzeichen waren also klar, der RWE trat als deutlicher Außenseiter gegen einen stark besetzten FC Meineid unter der Leitung von Udo Lattek an. Das altehrwürdige Georg-Melches-Stadion war natürlich ausverkauft, allerdings durften nur knapp über 19.000 Zuschauer dem Spektakel beiwohnen. Die alte Westkurve stand damals zwar noch, war auf Kriegsschutt erbaut nun aber inzwischen baufällig und bereits dem Abriss geweiht. Vorverkauf hieß damals übrigens noch ewig langes Anstehen an irgendwelchen Tabak- oder Lotterie-Läden.
Die Erinnerungen sind zugegebenermaßen mittlerweile blass, aber sie sind noch da. Die Roten begannen die Partie jedenfalls sehr stark und schienen die Blauen damit zu überraschen. Nach Ballgewinn wurde schnell umgeschaltet und damit hatten die ungeliebten Gäste ihre liebe Mühe. Nachdem die ersten Möglichkeiten noch vergeben wurden, war es dann Mitte der ersten Hälfte soweit. Nach einem schnellen Konter bekam der Kroate Pedrag Crnogaj die Kirsche in halbrechter Position, nahm diese mit rechts an und nagelte die Murmel mit links unter die Latte. Abfahrt! Tollhaus! Alles purzelte herum, man fand sich plötzlich ein paar Stufen weiter unten wieder und unsere alte, bezaubernde Wellblechbude flog förmlich auseinander. Das Bild änderte sich auch erst im zweiten Durchgang, als beim RWE die Kräfte etwas schwanden und die Truppe aus Arbeitslosenkirchen zu einigen Chancen kam, die Kult-Schnapper Frankie ‚Curtis‘ Kurth aber stark entschärfte. Nach einer Ecke für Blau, kam dann der große Auftritt des Jörg Lipinski. Der hereinsegelnde Ball wurde per Kopf geklärt und dann mit einem langen Schlag aus dem Sechzehner befördert. Kurz hinter der Mittellinie fiel das Ding steil aus dem Himmel und ein gewisser Jens Lehmann wollte das Teil annehmen. Der Ball sprang aber meterweit vom Fuß, der hinterher spurtende Lipinski erreichte diesen deutlich vor Jensemann und lief mit dem Spielgerät im Vollsprint in Richtung des verwaisten Tores.
Lehmann versuchte erst noch Lipinski zu erreichen, erkannte aber bald die Ausweglosigkeit dieses Vorhabens, gab auf und schlurfte in Höhe der Strafraumgrenze nur noch langsam Richtung Tor. Und Lipinski? Während alle Roten im Stadion komplett durchdrehten, war der mit dem Ball einen Meter vor der Torlinie stehen geblieben, hatte sich jubelnd umgedreht und genoss den Triumph. Die Hintertor-Perspektive der Fernseh-Bilder ist absolut genial anzusehen. Während Lipinski dort steht, kommen die Mitspieler an Lehmann vorbei auf ihn zu gerannt. Warum auch immer befinden sich Leute in zivil rechts und links des Tores und rasten völlig aus. Einer betritt sogar das Spielfeld, obwohl der Ball noch gar nicht im Netz liegt. Nach endlos langen fünf Sekunden schiebt Lipinski die Kugel endlich ins Netz. Ein Tor für die Ewigkeit! Ich kann mich erinnern, dass ich noch Sorge hatte, dass der Schiedsrichter das Tor aufgrund von unsportlichem Verhalten aberkennt. Lipinski sagte nachher im Interview locker, dass er nur die taktische Anweisung von Trainer Röber umgesetzt hatte, Zeit von der Uhr zu nehmen, wenn sie in Führung liegen. Damit war die Partie natürlich durch und Udo Latteks blauer Pullover hatte seine vermeintliche Strahlkraft verloren.
Ich hatte vor gut 15 oder 16 Jahren das zweifelhafte Vergnügen mit der Dritten von Adler Frintrop gegen Lipinski zu spielen. Er war damals sportlicher Leiter der SG Schönebeck, die ja durch die Damen-Bundesliga-Mannschaft Bekanntheit erlangt hatte. Die SGS wollte damals seine zweite Senioren-Mannschaft in der Kreisliga halten und daher wurde diese kurz vor Saisonende mit Talenten aus der guten A-Jugend ergänzt. Außerdem schnürte Lipinski in der Abwehr-Reihe die Schuhe. Für uns ging es um nichts mehr, unser Trainer hatte mich als einzigen Stürmer aufgestellt, eine Taktik, die ich eh immer gehasst habe. Und ich habe in 90 Minuten eigentlich keinen Ball gegen Lipinski gesehen, obwohl er schon über 40 Jahre alt gewesen sein muss. Aber gegen Ex-Profis macht man als begrenzt talentierter Fußballer einfach keinen Stich, die Jungs wissen halt was sie mit wenig Aufwand zu tun haben. So blieb mir nur, ihm nach dem Spiel persönlich zu danken, dass er mir einen der größten Momente in meiner rot-weissen Fan-Karriere verschafft hatte.