
US Avellino 1912 vs Benevento Calcio 2:1
Stadio Partenio-Adriano Lombardi, 9.500 Zuschauer, Serie C Girone C

Nach dem Spiel in Quarto kehrte ich zunächst nach Scampia zurück, um mir die ‚Vele di Scampia‘ aus nächster Nähe anzusehen, einem der wichtigsten Drehorte der schon angesprochenen Netflix-Mafia-Serie ‚Gomorrha‘. Bei den ‚Vele‘, ins Deutsche übersetzt: Die Segel von Scampia, handelt es sich um einen markanten aus mehreren Blöcken bestehenden Wohnkomplex in charakteristischer Form, welche an Segel erinnert. Als bedeutendes Projekt des sozialen Wohnungsbaus wurden die Gebäude in den 60er und 70er Jahren errichtet, aber nicht instandgehalten, weshalb die Substanz schnell verkam. Schon ab Ende der 90er wurden erste Familien umgesiedelt und drei der sieben Gebäude abgerissen. Die verbliebenen Blöcke entwickelten sich zum Problemviertel, in dem der Handel und Konsum von Drogen blühten. Freiwerdende Wohnungen wurden von illegal in Italien lebenden Menschen okkupiert. 2019 beschloss die Stadtverwaltung den Abriss weiterer drei Gebäude, lediglich ein Block soll bestehen bleiben und saniert werden. Mittlerweile wurden die Häuser geräumt und von einem hohen Bauzaun umgeben. Die ‚Vele‘ sind nun ein zauberhafter, leider nicht besuchbarer Lost Place, da das Gelände annähernd lückenlos mit viel Personal von einem Sicherheitsdienst überwacht wird. Dennoch beeindruckend, sich diese Kolosse mit den recht einzigartigen Verbindungsbrücken zwischen den Wohneinheiten einmal aus der Nähe anzusehen.






Natürlich sollte die Tour noch eine gute Partie auf höherem Niveau enthalten. Die faszinierende Spielstätte in Avellino hatte ich schon mehrfach ins Auge gefasst, aber den Besuch nie realisiert. Die US Avellino spielt nach langer Zeit mal wieder eine richtig gute Saison, ist Tabellenführer der C-Gruppe der Serie C und empfing Benevento zum Derby. Der befürchtete Gäste-Ausschluss bewahrheitete sich wenige Tage vor dem Spiel, leider sind Gäste-Verbote in der Süd-Gruppe der dritten italienischen Liga inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Eine erwartbar heiße und gut aufgelegte ‚Curva Sud‘ der Gastgeber sollte das aber hoffentlich mehr als ausgleichen. Der Vorverkauf für dieses Spiel startete, während ich noch in Liberia weilte. Das betagte Stadion fasst zwar eigentlich an die 30.000 Zuschauer, ist aber nur noch für deren 10.000 zugelassen, da viele Bereiche aufgrund der brüchigen bejahrten Bausubstanz nicht mit voller Auslastung nutzbar sind. Ein schnelles Sold-out hatte ich dennoch nicht erwartet und wurde eines Besseren belehrt, denn nur wenige Stunden dauerte es, bis alle Tickets vergriffen waren. Ein Bitt-Schreiben per Email an den Verein wurde negativ beschieden, sodass dieses Spiel wohl ohne mich stattfinden sollte. Als Alternative bot sich die Partie der Serie B zwischen Salernitana und Palermo an. Im ‚Stadio Arechi‘ in Salerno war ich zwar schon, aber diese Aufwartung liegt lange zurück, das Stadion ist eine Bombe und Palermo versprach zudem einen ordentlichen Gäste-Mob, denn der Club ist in der Fremde normalerweise well-supported. Dennoch war ich mit dieser Variante irgendwie unzufrieden, sodass ich entschied all-in zu gehen und auf gut Glück nach Avellino zu fahren.
Das ‚Stadio Partenio – Adriano Lombardi‘ wurde bewacht wie eine Festung, so dass ein reinmogeln unmöglich zu sein schien. Also sprach ich mal am Ticketschalter vor und nach einigen blumigen Erklärungen und einer Träne im Knopfloch, kam plötzlich Bewegung in die Geschichte und einige Minuten später hielt ich tatsächlich ein Ticket für die Gegengerade in den Händen. Mille Grazie, Raggazi und Raggazine! Ich umrundete die Bude erst einmal und man kann dabei in die Geschichte der Ultra-Szene beinahe an jeder Ecke eintauchen. Das Stadion ist irgendwo in den 80ern oder 90ern hängengeblieben, einfach ein Traum für Nostalgiker. Zwanzig Minuten vor Anpfiff huschte ich dann hinein. Während die Curva Sud mit den Ultras der ‚Lupi‘ schon prallgefüllt war, herrschte in der Curva Nord, in der sich auch der ‚Settore Ospiti‘ befindet, natürlich gähnende Leere. Abgesehen von einem an die Haupttribüne grenzenden Block, in dem ein Fanclub mit der Bezeichnung ‚Avellino Curva Nord Diversamente Insuper Abili‘ seine Heimat hat. Dabei handelt es sich um Personen, welche körperlich oder geistig benachteiligt sind und der Block erstrahlte zum Einlauf der Teams sogar im Schein von einigen Fontänen und Blink-Bengalos.
In der Curva Sud, dem Epizentrum der Avellino-Ultras hing nur ein einziges Banner an der Balustrade des Oberrangs mit dem Satz „Solo chi osa puo‘ scrivere la storia… Avanti Avellino“, was soviel bedeutet wie „Nur wer etwas wagt kann Geschichte schreiben… Auf geht’s Avellino“. Was dann über neunzig Minuten folgte war Musik in den Ohren, denn die Kurve lieferte eine akustisch wertvolle Dauervorstellung mit nur wenigen Schwächephasen. Auch optische Merkmale wurden mit wiederkehrenden Pyro-Einlagen geboten. Auf dem Rasen entwickelte sich ein gut anzuschauender Schlagabtausch auf Augenhöhe. Die Gäste aus dem nahen Benevento hatten nicht vor, den Gastgebern die Punkte einfach so zu überlassen und hatten als aktueller Fünfter der Tabelle auch noch alle Chancen, einen Platz für die Playoff-Phase zu erreichen. Kurz nach dem Seitenwechsel gingen die ‚Lupi‘ in Führung und brachten das Rund noch mehr in Wallung. Die Gäste glichen aber eine Viertelstunde später aus. Die Grün-Weißen ließen sich jedoch nicht beirren und erarbeiteten sich ein Übergewicht, welches eine Viertelstunde vor Schluss im erneuten Führungstreffer mündete. Benevento kam dann kaum noch gefährlich in die Box der Gastgeber, die den Sieg in der Kurve mit ihren Anhängern frenetisch feierten. Ich klopfte mir noch selber feste auf die Schulter, die Anreise gewagt zu haben und machte mich in Ruhe auf ins Nachtquartier.





























