
Olympique de Marseille vs OGC Nice Cote d’Azur 2:0
Stade Vélodrome, 65.803 Zuschauer, Ligue 1

Da die direkte Luftlinie von Mallorca in die Heimat annähernd unmittelbar über Marseille führt, war es ja beinahe obligatorisch, diese Chance wahrzunehmen. Zumindest wenn man mit dem ‚Vélodrome‘ noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Als ich dieses wunderschöne Stadion zum ersten Mal besuchte, war es noch im alten Zustand und ich durfte eine abwechslungsreiche, stimmungsvolle Partie von OM, wie der Verein in Frankreich nur kurz bezeichnet wird, gegen Girondins Bordeaux mit einem gut gefüllten Gästeblock genießen. Mit Blick auf die Europameisterschaft 2016 wurde das Stadion dann umfassend um- und ausgebaut und erhielt diese monumentale Dachkonstruktion. Grund genug, einen Urlaub an der Cote d’Azur zu nutzen, dieses Monster nach dem Umbau zu besuchen. In einem Spiel der Europa League-Gruppenphase war der türkische Vertreter Konyaspor zu Gast und im riesigen Stadion verloren sich keine 10.000 Zuschauer. Die Kurven blieben weitestgehend leer, da die Ultra-Szene mit der Vereinsführung im Streit lag. Ob Gäste anwesend waren, kann ich gar nicht mehr sagen. Jedenfalls war der Besuch eine einzige Enttäuschung und es war klar, dass ich hier nochmal aufdribbeln würde. Der Grund ist ja nicht allein dieses Stadion, dass für mich zu den Top-Adressen in Europa zählt, sondern auch die Szene von OM, die mich mit ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit wirklich fasziniert. Der Verein eint die Einwohner der Stadt vom einfachen Handwerker mit Migrationshintergrund bis zum affektierten Politiker. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal, das schaffen viele Clubs weltweit und doch wirkt es hier besonders. In den Straßen um und unmittelbar am Stadion sind natürlich viele Graffiti zu finden, in denen sich die Ultra-Gruppen von Olympique verewigt haben.







Die beiden Kurven, die Virage Sur und die Virage Nord, die nach dem verstorbenen Gründer der Gruppe ‚Marseille Trop Puissant‘ nur Virage Depé genannt wird, haben komplizierte Strukturen. Es gibt auch gemäßigte Zusammenschlüsse wie die ‚Amis de l’OM‘ oder den ‚Club Central‘, dirigiert und geführt werden die Kurven aber von den großen Ultra-Gruppen, die sich alle auf eine mindestens vierstellige Anzahl Mitglieder mit landesweiten Sektionen und auch darüber hinaus stützen können. Jede Gruppe hat ihren festen Platz und damit ihren eigenen Machtbereich, was auch an den Gruppen-Graffiti an den betreffenden Block-Zugängen abzulesen ist. Und auch wenn nach außen hin Geschlossenheit demonstriert wird, machen alle Gruppen ihr eigenes Ding, was auch darin seinen Grund findet, dass jede Gruppe mit abweichender Philosophie und Mentalität agiert. Etwas einfacher zu verstehen ist die Virage Sur, welche sich die älteste Gruppierung, das ‚Commando Ultra 84‘ (CU84) im Unterrang und die ‚South Winners‘ im Oberrang teilen. Die South Winners heben sich durch die Verwendung vieler orangefarbener Elemente in der Coleur von den anderen Gruppen ab. Diese Leitfarbe findet ihren Ursprung darin, dass die ‚Winners‘ Ende der 80er bei einem Spiel gegen den verhassten Rivalen PSG aus der Hauptstadt – heute in OM-Kreisen in Anspielung auf die Unterstützung aus Qatar auch gern QSG genannt – ein Zeichen gegen die rechtsgerichtete Kurve der Hauptstädter setzten wollte und ihre Bomberjacken, das damals typische Kurven-Kleidungsstück, auf das orangene Innenfutter drehte.
Insgesamt verstehen sich alle OM-Gruppen anti-faschistisch und anti-rassistisch. Die ‚Winners‘ ergänzten ihren Gruppennamen einige Jahre nach der Gründung um den Zusatz ‚Kaotic Group‘ um ihre Leidenschaft und ihren Stil zu verschriftlichen. Die Virage Nord gehört den Gruppen ‚Marseille Trop Puissant‘ (MTP), deren angesprochener Gründer übrigens vorher ein ‚South Winner‘ war, ‚Dodgers‘, entstanden aus früheren ‚Yankee‘-Leuten, und ‚Marseille Fanatics 1988‘, die sich alle im Oberrang aufhalten. In der Nordkurve waren im Unterrang bis vor wenigen Jahren auch die besagten ‚Yankees Nord‘ beheimatet, die aber 2018 vom Verein aufgrund Unregelmäßigkeiten beim Ticket-Verkauf, der für die Kurven von den Gruppen eigenständig geregelt wird, aus dem Stadion ausgeschlossen wurden. Ob die Gruppe dann offiziell aufgelöst wurde, ist mir nicht bekannt, aber viele ehemalige ‚Yankees‘ finden sich heute bei den gemäßigten ‚Amis l‘OM‘ im Unterrang der Virage Depé wieder, was nicht allen früheren ‚Yankee‘-Membern gefällt und es daher immer wieder mal zu Spannungen kommt. ‚Winners‘, ‚Commando‘ und ‚Fanatics‘ schlossen sich in den 90ern zu den ‚Supporters Phocéens‘ zusammen um ein einheitlicheres Bild und Support abzuliefern. Dieses Bündnis scheiterte aber nach einigen Jahren aus verschiedenen Gründen, wie zum Bespiel unterschiedlicher Philosophie und der Uneinigkeit über den gemeinsamen Standort im Stadion.
Schon deutlich früher als zwei Stunden vor Anstoß war ich am Stadion. Das ‚Commando‘ veranstaltete schon vor dem Spiel auf dem ‚Boulevard Michelet‘ eine Riesen-Party mit Fackeln und Rauchtöpfen. Allerdings flogen auch diese unsäglichen Böller, ein Stil-Element, welches beim Fußball oder generell beim Sport mal überhaupt nix verloren hat. Als die Kracher dann unkontrolliert in die Menge geworfen wurden, ein Kleinkind wurde in einem Falle nur um wenige Meter verfehlt, nahm ich das als Signal mich auf ein Merguez-Sandwich zurückzuziehen. Als ich dann eine halbe Stunde vor Spielbeginn auf dem Weg zum Block-Eingang die Südkurve passierte, schepperte es im Stadion, als wäre eine ‚Cruise Missile‘ eingeschlagen. Ich möchte behaupten, dass ich so einen lauten Böller noch nie vernommen habe und war froh, noch nicht im Stadion gewesen zu sein. Keine Ahnung mit was die Gruppen da rumhantierten, aber es war absolut krank, überflüssig und unverantwortlich. Und ich machte mir nun ernste Sorgen, dass überhaupt angestoßen würde, denn während ich in der Menge vor der Sicherheitskontrolle stand, waren immer wieder Durchsagen des Stadionsprechers und darauffolgende Pfiffe zu vernehmen. Letztlich wurde aber nur mitgeteilt, dass das Spiel abgebrochen werden würde, sollte im Laufe der Partie gezündelt oder erneut ein Böller geworfen werden.
Das ‚Velodrome‘ präsentierte sich nicht ganz ausverkauft, Gäste waren erwartungsgemäß leider keine zugelassen. Das ist in Frankreich ja mittlerweile leider beinahe üblich, bei vielen Risiko-Spielen bleiben die Gästeblöcke leer und der Olympique Gymnaste Club de Nice Cote d’Azur, wie der Verein mit vollem Namen wohlklingend heißt, gehört aufgrund der räumlichen Nähe schon zu den ernsteren Rivalen von OM. Kurz vor dem Einlauf der Mannschaften begann dann die Show. In der Virage Depé feierten die MTP ihr 30jähriges Bestehen. Zunächst wurde eine detailliert gemalte Choreo über alle Ränge gezogen. Leider wölbten sich die Stoffbahnen aber durch die Thermik der Kurve auf, so dass die Motive nicht gut zu erkennen waren. Seitlich wurden an Seilen weitere Choreo-Elemente hochgezogen. Links war das Gruppen-Avatar zu sehen, ein Totenkopf, welcher das Gründungsjahr in den Knochenhänden hatte, während rechts das Jubiläumsjahr von einem finster dreinblickenden Oktopus umklammert wurde. Nach dem Herunternehmen der Bahnen wurde mittels Zettel eine 30 gezeigt, nachdem diese verschwand, wurde in der Kurve durch Überzieher in Blau und Weiß das Gruppenkürzel sichtbar. Hier gab es allerdings jeweils Lücken. Die Kurven sind vollständig mit Sitzen ausgestattet, die natürlich nicht genutzt werden, da die Fans alle stehen. Dadurch sind die unteren Reihen im Unterrang nicht besetzt, die Leute orientierten sich eher nach oben, so dass den Aktionen quasi ‚der Fuß fehlte‘. Auch die oben links in der Kurve platzierten ‚Fanatics Marseille‘ hatten zumindest auf die Überzieher keinen Bock. Die ‚Fanatics‘ machten auch durchweg ihr eigenes Ding, waren aber aufgrund relativ geringer Zahl zur übrigen Kurve kaum zu hören, wirkten aber mit viel Fahneneinsatz und Hüpfeinlagen sehr dynamisch und agil.
In der Virage Sur feierte das ‚Commando Ultra‘ bereits das 40jährige Jubiläum. Aus einer großen blauen Plane war eine ‚40‘ ausgeschnitten worden. Diese Ausschnitte wurden zunächst mit helleren blauen Pappen gefüllt, diese dann auf weiß gewendet und dazu unregelmäßig am Rande der ausgeschnittenen ‚40‘ weiße Fackeln gezündet. Im Oberrang feierten die ‚South Winners‘ ein anderes Jubiläum, nämlich 80 Jahre seit der Befreiung Marseilles und der Provence von den deutschen Besatzern. Über der Zaunfahne des CU84 hing eine recht großes West Ham-Banner im typischen Stil, also eine entsprechend ausgekleidete englische Landesfahne, mit Herkunftsbezug Marseille. Ungewöhnlich und eine Freundschaft zu West Ham wird es kaum geben, da die englischen Szenen ja nicht in Gruppen organisiert auftreten. Bekannt ist dagegen die Verbindung zu den ‚Ultras Tito Cucchiaroni‘ von Sampdoria Genoa, die, 1969 gegründet, ja angeblich die Ur-Väter der Ultra-Bewegung sein sollen Auf dem Feld gingen beide Teams direkt in die Vollen. Die Gäste machten hier zunächst den gefährlicheren Eindruck, konnten aber nichts Zählbares erreichen. OM riss das Ruder nach der Anfangsviertelstunde langsam an sich, der OGC blieb mit schnellen Vorstößen aber gefährlich. Der vermeintliche Führungstreffer für die Himmelblauen wurde nach VAR-Überprüfung aberkannt, aber vor der Pause war es dennoch soweit und OM ging mit einer Führung in die Halbzeit.
In der Pause wurden unter der Virage Sud erneut mehrere Böller gezündet – krankes Volk. Zu Beginn der zweiten Spielhälfte gab es dann weitere Aktionen der Jubiläums-Gruppen. MTP zog an Seilen einen Lappen mit mehreren für die Gruppe relevanten Motiven hoch und CU84 folgte mit einem großen Totenkopf, der dann von einer schönen Blockfahne abgelöst wurde, welche von Lorbeer umkränzt eine ‚40‘ und den Schriftzug ‚Ultras Marseille‘ präsentierte. Die ‚Fanatics‘ sendeten dann per Spruchband noch einen Glückwunsch an das ‚Commando‘. Es gab in beiden Kurven ständig was zu sehen, so dass es fast schwierig war, nichts zu verpassen. Nachdem die Gäste kurz nach Wiederanpfiff eine riesige Chance zum Ausgleich liegen ließen, die der OM-Schnapper grandios entschärfte, stellte der Brasilianer Luis Henrique mit einem wunderbaren Schlenzer schon früh im zweiten Durchgang den Endstand her. Zwar musste OM die Schlussviertelstunde in Unterzahl verbringen, aber dem OGC gelang kein Treffer mehr. Wie auch, wenn selbst das leere Tor verfehlt wird. Kurz vor dem Ende der Partie wurde dann auch endlich das Pyro-Verbot missachtet. Die Virage Nord um MTP beschränkte sich im Oberrang auf das Abbrennen von gut 100 Fackeln, während CU84 im Unterrang der Virage Sud zahlenmäßig noch einen draufsetzte und zusätzlich Raketen oder Fontänen abschoss. Leider krachte es auch wieder mehrfach durch die Bude. Nach dem Abpfiff ließ ich mir viel Zeit, ließ die Atmosphäre noch auf mich wirken und schaute den Gruppen beim Abbau ihrer Utensilien zu, bevor ich wieder in die Hood um mein Hotel zurückkehrte und nach einem ausgiebigen Mal beim Tunesier meines Vertrauens nach einem langen Tag früh die Reise ins Reich der Träume antrat.

































Am Folgetag verzichtete ich auf mögliche Spielbesuche, spannend wäre es eh nicht gewesen, lediglich im Regionalpokal wurde auf wenig ansprechenden Anlagen gekickt. Stattdessen nahm ich mir Zeit für die Stadt, stieg hoch zur Kathedrale ‚Notre-Dame de la Garde‘, die auf einem Hügel in der Stadt thront, und streifte dann durch die Straßen um den alten Hafen und die Altstadt. Marseille hat bekanntlich nicht den besten Ruf. Eine hohe Kriminalitätsrate, die großenteils der hohen Anzahl der nord- und westafrikanischen Migranten, eine Last der französischen Kolonialvergangenheit, die teils ohne festes Einkommen in den äußeren Stadtvierteln in leben, in welche sich die Polizei kaum noch reintraut, haben Marseille den Leumund versaut. Zudem soll die Stadt dreckig und runtergekommen sein. Davon bekommt man im sehenswerten Stadtkern um den alten Hafen aber nichts mit. Auch die daran angrenzenden, von Nordafrikanern beherrschten Viertel sind durchaus im positiven Sinne spannend. Zum Teil fühlte man sich, als würde man durch die Gassen von Algier oder Tunis laufen. In den Cafés, Bars, Geschäften und Restaurants und auf den Straßen selbst ging es lebhaft zu, es roch nach Gewürzen und gegrilltem Fleisch und die Leute waren freundlich und aufgeschlossen. Der dritte Besuch in Marseille muss nicht der letzte gewesen sein.










