Olympiastadion, 76.391 Zuschauer, DFB-Pokal Finale
Heute vor 26 Jahren stand der glorreiche RWE zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte im DFB-Pokal-Finale. Und das als Zweitligist. Dieses Spiel ist für mich noch immer das High-End-Erlebnis mit meinem Herzensclub. Emotional gab es vergleichbare Erlebnisse und hinsichtlich Tifo und Support – auch wenn es vor allem in Hälfte zwei verdammt laut und die Stimmung wirklich nicht übel war – deutlich bessere, aber ein DFB-Pokalfinale werde ich mit meinem Verein wohl nie mehr erleben.
Ich habe (fast) alle Spiele dieser Pokal-Saison gesehen. Es fing alles ganz harmlos an. In der ersten Runde bekam der RWE ein Freilos, was damals noch möglich war, da sich eine Anzahl von Clubs für die erste Hauptrunde im DFB-Pokal qualifizierte, die nicht sofort auf das Schema des K.O.-System passte. In der zweiten Runde wurde der 1.FC Bocholt als Gegner gelost, was eine kurze Anreise bedeutete. An einem frühen Mittwoch-Abend im August gewannen die Roten am Hünting etwas glücklich mit 3:2, denn der glorreiche Deutsche Meister von 1955 geriet in der Schlussphase gegen den Oberligisten noch gewaltig ins Schwimmen. In Runde Drei war dann der FC St.Pauli an der Hafenstraße zu Gast und wieder hieß das Ergebnis 3:2. Dieses Mal aber nach Verlängerung und dramatischem Verlauf. Bis 20 Minuten vor Ende der regulären Spielzeit hieß es 0:2. Aber es war Freitag-Abend und das Flutlicht brannte – schon immer beste Voraussetzung für denkwürdige Pokal-Abende. In der Nachspielzeit fiel noch der Ausgleichstreffer und in der Extra-Time der umjubelte Siegtreffer gegen die Hansestädter. Im Achtelfinale hieß der Gegner MSV Duisburg, damals Bundesligist. Volles Haus und wieder ein Abendspiel, dieses Mal unter der Woche. Und es wurde gegen die Meidericher ein erstes Ausrufezeichen gesetzt. Nach starker Leistung und einem verdientem 4:2-Sieg stand der RWE im Viertelfinale. Die Losfee meinte es nun nicht ganz so gut und schickte meinem Verein nach Jena, Anstoß auf einem Dienstag um 17:30 Uhr.
Das hinderte den mittlerweile auf den Pokal-Geschmack gekommenen Rot-Weiss-Anhang nicht, die Mannschaft zahlreich zu begleiten. Ein Sonderzug wurde auf die Beine gestellt, der am frühen Morgen den Essener Hauptbahnhof verließ. Kalt war es an diesem November-Tag und bei einem Aufenthalt im Herforder Bahnhof, um einen Regelzug passieren zu lassen, zog ein ganz Schlauer die Notbremse, die dann einfror und sich nicht mehr löste. Wäre nur eine Randnotiz, wenn der Defekt nicht ausgerechnet an dem Waggon eingetreten wäre, in dem der Verfasser seinen Platz hatte. Die Passagiere dieses Waggons sollten sich also auf die übrigen ungefähr zehn Wagen verteilen. Der defekte Waggon musste mitten aus dem Zugverband heraus rangiert werden, das kostete Zeit. Und Nerven. Denn es war nun frühzeitig klar, dass ein pünktliches Eintreffen zu Spielbeginn in Jena nicht mehr möglich war. Das war das Zeitproblem. Das Problem mit den Nerven hatten aber nicht die feiernden und bierseligen RWE-Fans, sondern die feinen Herren Beamten der den Zug begleitenden Hundertschaft. Die umsteigenden Fans waren natürlich daran interessiert, mit ihren Freunden und Bekannten zusammen zu bleiben. Ich war von meiner Gruppe getrennt worden und wollte mich zu diesen begeben. Das passte einem der im Gang stehenden Beamten nicht, denn dieser forderte mich unfreundlich auf, mich in das hinter mir befindliche Abteil zu setzen. Mein Einwand, dass ich nur zu meinem Leuten wollte, beantwortete der Uniformierte mit einem massiven Stoß vor meine Brust, der mich einen Meter zurück warf.
Nun reagierte ich mit ein paar leckeren Stauder in der Blutbahn leider nicht mehr allzu sensibel, was dazu führte, dass ich umgehend aus dem Zug entfernt wurde. Und mein bester Kumpel, der mich aus einiger Entfernung verbal verteidigt hatte, gleich mit. Überragende Aktion von Team Schnittlauch, aber was will man auch von Leuten erwarten, die in der Sonderschule nur die Fächer Singen und Klatschen belegt haben. Damit wir bei Minustemperaturen auf dem Bahnsteig nicht so frieren mussten, war die nun übernehmende Bahnpolizei so freundlich, uns bei der Herforder Hauptwache abzuliefern, wo wir uns noch ne Zeit lang sinnlosen Bullen-Hirnschiss anhören mussten, bis wir wieder raus geschmissen wurden. Heißen Dank. Immerhin bekamen wir unseren Biervorrat zurück, der uns die Rückfahrt verkürzte. Ich räume ein, dass meine Reaktion auf das aggressive Vorgehen dieses Berufsverfehlers sicherlich nicht dem Deeskalations-Lehrbuch entstammte. Dennoch sehe als Verursacher dieser Situation in erster Linie den OrdnungsKrawallhüter, denn hätte der mich einfach nur zwei Abteile weiter ziehen lassen, wäre nichts geschehen. Die Nummer damals ist sicherlich mitentscheidend für meine heutige Meinung zu Polizeieinsätzen bei Großveranstaltungen. Wenn es denn was Gutes hatte, dann dass uns nach dem Spiel nicht die Extremitäten wegen Erfrierungen amputiert werden mussten. Denn bei 15 Grad minus musste der RWE nach 120 torlosen Minuten ins Elfmeter-Schießen, wo Kult-Torwart Franky Kurth den entscheidenden Ball hielt, und die Roten in die Vorschlussrunde beförderte
Halbfinale also und es waren nur noch Werder, Dynamo und TeBe Berlin mit im Rennen. Gebannt wurde die Auslosung verfolgt und mit dem Heimspiel gegen die Ligen-Gefährten aus Berlin hätte die Ausgangslage nun nicht besser sein können. Die Berliner stellten damals allerdings eine Star-besetzte Truppe, waren damit zwar dennoch Schlusslicht der zweiten Liga, aber auch nicht im Vorbeigehen zu besiegen. Eigens für dieses Spiel wurde auf der Fläche der kurz zuvor wegen Baufälligkeit abgerissenen legendären Westkurve eine Stahlrohr-Tribüne errichtet, um das Fassungsvermögen zu erhöhen. 24.000 Zuschauer, ausverkauft, hieß es dann und vom violetten Berlin war nur ein Dutzend Fans an diesem Dienstag-Abend im März nach Essen gekommen. Es war ein richtig gutes Fußballspiel, die Roten waren das bessere von zwei engagierten Teams und gewannen verdient mit 2:0. Finale, BÄÄÄM! Dabei war die Situation damals eine besondere, denn der glorreiche RWE hatte bereits im November rückwirkend die Lizenz für die laufende Zweitliga-Spielzeit entzogen bekommen. Zu den Lizensierungs-Unterlagen war eine Nebenvereinbarung zwischen dem Präsidenten und dem Haupt-Gläubiger des Vereins getroffen worden, was dem Aufsichtsrat erst im Herbst gewahr wurde. Der Präsident wurde abgewählt und der Verein entschied sich zur Selbstanzeige, in der Hoffnung, milde bestraft zu werden.
Der DFB wäre aber nicht der DFB, wenn er das nicht anders bewertet hätte. Sachlich zwar wohl korrekt, denn die Roten hätten die Lizenz wohl gar nicht erst erhalten, wenn die Vereinbarung dem Lizenzantrag beigefügt worden wäre. Aber so ein Urteil sendet natürlich ein Signal an mögliche Nachahmer. Besser man schweigt sich aus, statt zur Aufklärung beizutragen, wenn letzteres das Strafmaß nicht positiv beeinflusst. Pikanterweise hatte der für diese Entscheidung mitverantwortliche Vorsitzende des DFB-Ligenausschusses Mayer-Vorfelder kurz nach der Bekanntgabe des Lizenzentzugs in seiner gleichzeitig ausgeübten Funktion als Präsident des VfB Stuttgart den RWE-Trainer Jürgen Röber geangelt. Man muss ihn einfach liebhaben, diesen wunderbaren Deutschen-Fußball-Korruptions-Verband. Es wurde zwar noch ein Einspruch verhandelt, aber kurz nach dem Halbfinal-Sieg gegen TeBe war die Entscheidung final besiegelt. Die restliche Saison bestand also nur aus Freundschaftsspielen, denn dem RWE waren alle Punkte aberkannt worden und es wurde fortan an ohne Wertung gespielt. Das galt aber nur für die Roten – für den Gegner zählte der Spielausgang. Da werden sich einige Clubs in den Arsch gebissen haben, die noch Punkte gegen den RWE ließen. Für echte Emotionen blieb also nur der Pokal und der Fußballgott wird schon wissen, warum, er einen vom DFB – sorry – gefickten Verein genau in diesem Moment in dessen hochgelobtes Pokalfinale führte.
Ich habe nie länger für eine Karte angestanden, als für dieses Spiel. Zwei Stunden vor Öffnung der Vorverkaufsstelle in meinem Stadtteil fand ich mich ein und stand ungefähr an Position 300. Wir waren eine Reisegruppe von gut zehn Leuten. Freundin, Kumpel, Schwester, Freundin von Schwester, Schwester vom Kumpel, Freund von Schwester vom Kumpel undsoweiter. Mit dem ICE ging es früh morgens los und obwohl jeder Final-Teilnehmer nur 15.000 Tickets zugesprochen bekam, hatten sich über irgendwelche Quellen gut 25.000 Essener – einige Quellen schätzen sogar 30.000 Rote – versorgt, waren in die Hauptstadt gereist und tauchten den Ku-Damm in Rot und Weiss. Die Fanfreundschaft zum SV Werder, die aber sicherlich nicht jeder teilte, erlebte damals ihre Hochphase. Ein optimaler Gegner für eine große Party und für mich natürlich aufgrund meiner Sympathie für den Club von der Weser noch mal eine zusätzliche Kirsche. Die Aufstellung bereitete Kopfzerbrechen, denn Ingo Pickenäcker, wichtiger Verteidiger, ging verletzt und nur fit gespritzt in die Partie, was sich als Fehlentscheidung herausstellte.
Die Roten zeigten in Hälfte eins leider auch zu viel Respekt vor der Aufgabe und Werder schoss locker eine 2:0-Führung heraus. Das änderte sich nach dem Wechsel. Kurz nach der Pause erzielte Bangoura den Anschlusstreffer und die Bremer kamen ins Wanken. Gehörig sogar. Es spielte nur noch der RWE, aber dieser verschissene Ausgleichstreffer wollte einfach nicht fallen. Kurz vor dem Ende setzte der SVW dann durch einen berechtigten Elfmeter, der wegen Handspiel nach einem Konter verhängt wurde, den Schlusspunkt. Die Essener Mannschaft wurde natürlich dennoch für diesen letztlich starken und mutigen Auftritt zurecht gefeiert und das Aufatmen bei den Verbandsbossen, dass der Pokal nicht in die Stadt der Aufständischen ging, spürte man bis in den Ruhrpott. Während des Spiels hatte es immer wieder Unmutsbekundungen gegen den DFB gegeben, in die nach und nach auch die sich solidarisierenden Bremer Freunde einstimmten, so dass sich die Stadionregie nicht zu blöde war, während des laufenden Spiels laute Musik einzuspielen, um das aus an die 50.000 Kehlen gegrölte „Tod und Hass dem DFB“ zu übertönen. Auch während der Pokal-Übergabe hörte man nur die RWE-Gemeinde. Nach dem Kick brauchte ich ein paar Minuten allein, um das Erlebte sacken zu lassen. Dann ging es noch für ein paar Stunden auf den Ku-Damm, aber der Akku war völlig leer gesogen und ich war froh als wir in aller Frühe den Zug nach Hause bestiegen. Ein wahrhaft unvergessliches Erlebnis!